Blue Lily - über die wunderbare Freundschaft zu einer Vogelspinne


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6. Kapitel - Eine radikale Lösung

Es ist Donnerstag abend, ein Tag vor der nächsten Therapiestunde. Noch habe ich keine Spinne auftreiben können.

Um ehrlich zu sein, hatte sich mir zwar zu Beginn der Woche die Chance geboten, als eine dicke Kellerspinne plötzlich an der Wand der Toilette klebte. Eine halbe Minute hatte ich überlegt, ob ich die Gelegenheit beim Schopf ergreife und es irgendwie schaffe, meinen abgrundtiefen Ekel zu überwinden, um das widerliche Biest einzufangen. Allein die Vorstellung war grauenvoll und erforderte meinen ganzen Mut. Aber der Held zieht manchmal auch die Flucht vor, so oder ähnlich heißt es doch in einer Sage, deren Titel ich vergessen habe, jedenfalls hatte ich zum Staubsauger gegriffen.

"Wo kriege ich nun auf die Schnelle eine Spinne her?" so überlegte ich krampfhaft. "Soll Rettung kommen, so kommt sie nur so, Rettung, der Strand von Buffalo." Der Himmel weiß, warum mir jetzt schon wieder Literarisches durch den Kopf ging, genauer eine Ballade. Ein Stück aus meiner Schulzeit, das ich so geliebt hatte, dass ich es - welche Leistung - freiwillig auswendig gelernt hatte. Aber genau das war der Ausweg, eine radikale Lösung mußte her! John Maynard, der Held von Theodor Fontanes gleichnamiger Ballade, lenkt das brennende Schiff "Die Schwalbe" mitten auf den rettenden Strand. Das Feuer erlischt, nur John Maynard ist leider tot. So tot wie die Spinne in der Toilette.

Aber ich brauchte eine lebende Spinne. Aufgeregt griff ich zum Telefonhörer. "Zooabteilung?" meldete sich ein freundlicher Mann. Da ich unter großer nervlicher Anspannung litt, vergalt ich ihm seine Freundlichkeit mit Gereiztheit. "Ja, guten Tag, haben Sie Spinnen da, Taranteln oder irgend so was?" "Ja, haben wir da, eine blaue Burmavogelspinne, die leuchtet schön blau", schwärmte er. "Na wie schön!" schnauzte ich ins Telefon. Und dann, mich an die Ausrede im Therapiebericht erinnernd, log ich: "Die ist nicht für mich, sondern für meinen Neffen. Ich hasse Spinnen! Kann ich die mir mal anschauen kommen?" "Ja, das können Sie gerne tun. Bis 20 Uhr haben wir geöffnet."

Bis 20 Uhr, dann war noch Zeit genug, schließlich war es erst 17 Uhr. Ich wartete bis 18 Uhr, dann packte ich eine große braune Ledertasche ins Auto und fuhr los. Dort angekommen erinnerte sich der Verkäufer sofort an meinen Anruf und holte das Terrarium. Die Spinne war für mich auf den ersten Blick kaum als Spinne zu erkennen, denn sie saß gut versteckt in einer gewebten Höhle, die Beine ganz eng an den Körper gezogen. Die Wände des kleinen Plastikterrariums waren überzogen mit einer dicken weißen Schicht von Spinnweben.

Angewidert starrte ich auf das unförmige Etwas. Eine junge Frau beugte sich vor: "Oh, wie süß, die macht sich ja ganz klein, die würde ich so gern mal streicheln." Fassungslos starrte ich sie an. "Soll ich Sie Ihnen einmal herausholen?" fragte der Verkäufer. "Äh, hm!" antwortete ich und überlegte fieberhaft, ob noch Zeit war für einen strategischen heldenhaften Rückzug. Zögernd bejahte ich.

Der Verkäufer öffnete den Deckel. Mit einem Kugelschreiber stupste er routiniert und wenig zimperlich die Vogelspinne an. Sie sprang mit einem lauten "Plopgeräusch" blitzschnell an die Scheibe und blieb dort hochaufgerichtet und völlig bewegungslos stehen. Ich war etliche Meter zurückgesprungen, nacktes Entsetzen schüttelte mich. "Jetzt nicht mehr", sagte die junge Frau kurz und knapp.

Ein Junge beugte sich übers Terrarium. "Oh, die ist aber gereizt." "Kennst du dich aus mit Vogelspinnen?" fragte ich. "Ja, mein Freund hat eine, die lässt er ab und zu laufen. Aber die hier ist ganz schön gereizt."

Die Spinne wirkte riesenhaft auf mich und grauenvoll wie das Schlangenhaupt der Medusa in der Sage, das ihre Feinde, wenn sie es erblickten, zu Stein erstarren ließ. So ähnlich fühlte ich mich auch, zwar nicht ganz in Stein verwandelt, aber doch versteinert vor Angst. Bei der Vorstellung, dass ich mir dieses entsetzliche riesige Untier auch noch ins Gesicht legen sollte, wie es der Therapieplan vorsah, fühlte ich mich, als ob mir jemand einen Schlag auf den Solarplexus versetzt hätte.

Vorsichtig versuchte ich den Verkäufer auszufragen, ob so etwas überhaupt möglich sei, und zwar wohlweislich, ohne die Frage direkt zu stellen. "Lässt sich die Vogelspinne denn auch herausnehmen, wenn sie zutraulicher geworden ist und, äh, streicheln?" Er schaute mich ungläubig an. "Wieso sollte die Spinne das denn tun?" Ich antwortete mit einem hilflosen Schulterzucken. "Die Spinne kennt doch nur Fressen und Gefressen werden, die kennt überhaupt keine Freundschaft, so etwas ist völlig artfremd." Mir sank jeglicher Mut. "Das heißt, sie lässt sich überhaupt nie einmal streicheln?" rief ich verzweifelt. "Sie haben ja keine Ahnung, eine Vogelspinne ist doch kein Streicheltier! Da müssen Sie schon ein Kaninchen nehmen, haben wir aber gerad keine da."

Verzweifelt starrte ich auf das riesige Knäuel von zahllosen haarigen Beinen. Dass es acht waren, wie ich einstmals im Biologieunterricht gelernt hatte, war in dem Durcheinander kaum auszumachen. Was sollte ich tun? Wenn ich morgen in der Therapiestunde ohne Spinne erschien, würde ich gehörig den Kopf gewaschen bekommen. Aber das ganze Vorhaben erschien mir wie heller Wahnsin, völlig aussichtslos, dass ich jemals den Mut dafür finden würde. "Sie nehmen die Spinne?" fragte der freundliche Verkäufer schon mehr als Feststellung. Ich ergab mich in mein Schicksal.

Angstvoll zählte ich das Geld auf den Tisch, 130.- DM, dabei in der festen Gewissheit, mein Geld aus dem Fenster geworfen zu haben. Noch ein Fachbuch dazu, noch einmal 30.- DM, es kostete mich größte Mühe, es anzufassen, da auf der Titelseite eine riesige Spinne prangte. Dazu bekam ich - kostenlos - eine kurze Haltungsbeschreibung und zum Schluss noch eine Schachtel Grillen für 6.- DM, ihr Futter.

"Machen Sie den Reißverschluß der Tasche ruhig zu", ermunterte mich der Verkäufer, "das gefällt der Spinne, wenn es schön dunkel ist. Die wächst auch noch ein Stück, das ist nämlich noch ein Baby", klärte er mich auf. Dann forderte er mich auf, mir den Namen der Spinne aufzuschreiben, was ich gehorsam tat: Haplopelma lividum, Blaue Burmavogelspinne.

Ich verließ den Laden und hielt die braune Ledertasche mit weit ausgestreckten Arm von mir, was mir am nächsten Tag einen starken Muskelkater einbrachte. Egal was mich nun erwartete, jetzt gab es kein Zurück.

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